Das Rechtssystem des Islam

Das Rechtssystem des Islam

The Editorial Team of Dr. Abd Arrahman al-Muala

(teil 1 von 2): Einleitung

 

 

Der Mensch ist von Natur aus ein geselliges Wesen.  Er kann nicht andauernd auf sich allein gestellt leben, völlig unabhängig von anderen.  Menschen sind von einander abhängig.  Dem entsprechend kommt es zwischen ihnen zu Reibungen, wenn ihre persönlichen Interessen in Konflikt geraten oder wenn das, was sie als ihre individuellen Rechte ansehen, die der anderen beeinträchtigen.  Konflikte unter ihnen sind unvermeidlich.  In manchen Fällen wird eine Konfliktpartei stärker und aggressiver sein, während die andere schwach ist, unfähig ihre Rechte zu verteidigen. 

Aus diesem Grund ist es notwendig, dass es einen Weg gibt, die Menschen davor zu bewahren, einander zu unterdrücken, um sicherzustellen, dass die schwächeren Mitglieder der Gesellschaft ihre Rechte erhalten und um festzulegen, was richtig und was falsch ist, wenn die Themen kompliziert oder unsicher werden.  Dies kann nur durch einen Richter geschehen, der die Macht hat, rechtliche Erlasse in Streitfragen zu geben. 

Aus diesem Grund sehen wir, dass die Existenz eines Richters im islamischen Recht und auch in den Gesetzen aller anderen offenbarten Religionen vorgesehen ist, sowohl als religiöse Verpflichtung als auch als Notwendigkeit des menschlichen Lebens.  Gott sagt:

“Wahrlich, Wir schickten Unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten mit ihnen das Buch und die Waagewerte herab, auf daß die Menschen Gerechtigkeit üben mögen.” (Quran 57:25)

Der Islam – die Religion, die Gott für die Menschheit seit der Zeit, als Er den Propheten Muhammad gesandt hat, bis zum Tag des Gerichts will – zeigt große Sorge um das Rechtssystem und um diejenigen, die dazu benannt werden, seine Verantwortung auszuführen.  Der Islam schreibt dafür viele gesetzliche Regelungen vor.  Wie könnte es auch sonst sein, wo doch der Islam eine Religion der Gnade, Gleichheit und Gerechtigkeit ist?  Es ist die Religion, die kommt, um die Menschen von der Anbetung der Schöpfung zu befreien und sie zur Anbetung Gottes zu bewegen.  Es ist die Religion, die kommt, um die Unterdrückung und Ungleichbehandlung der Menschen zu beseitigen und ihnen den höchsten Grad an Gerechtigkeit und Freiheit zu bringen. 

Der Gesandte Gottes war der größte Richter.  Er pflegte in der Stadt Medina, dem ersten islamischen Staat, als Richter zu urteilen.  Er pflegte Menschen als Richter für andere Städte zu benennen.  Unter diesen waren `Utâb b. Asyad, der nach Mekka geschickt wurde, Ali b. Abu Talib und Muadh b. Jabal, die beiden in den Jemen geschickt wurden. 

In der Zeit der rechtgeleiteten Khalifen blieb das Staatsoberhaupt derjenige, der die Richter benannte, ihre Angelegenheiten regelte, ihre Unabhängigkeit schützte und die Gouverneure und die politischen Benannten  - und sogar die Khalifen – waren an die Erlasse der Richter gebunden.  Umar b. al-Khattaab, der zweite Khalif, war der erste Mensch, der den Richter zu einer vom Khalif und den Gouverneuren unabhängigen Einheit machte.

Auf diese Weise entfaltete sich das Rechtssystem durch die frühe islamische Ära hindurch, während der Umayyiden Ära und auch der Abbasiden Ära.  Das Amt des obersten Gerichts wurde zu dieser Zeit ins Leben gerufen.  Das oberste Gericht war für das Einsetzen und Absetzen von Richtern verantwortlich.  Es war dafür verantwortlich, ihr Verhalten und ihre Ausübung zu überwachen.  Die erste Person die diesen Posten bekam, war Abu Yusuf, der Schüler des großen Juristen Abu Haniefah (möge Gott ihnen beiden gnädig sein).  Danach wurde dieses Amt in den muslimischen Ländern weit verbreitet.  Es existierte weiter bis zum Fall des Ottomanischen Reiches. 

Die Namen vieler gerechter Richter wurden in der islamischen Geschichte bewahrt.  Ihre Namen stehen für Gerechtigkeit und Integrität.  Viele Seiten in den Geschichtsbüchern widmen sich den Leben und Karrieren berühmter Richter wie Iyâs b. Muawiyah, Shurayh b. Abdallah, al-`Izz b. `Abd al-Salam und anderer, die die Lehren des Islam auf die bestmögliche Weise angewandt haben.  Sie gaben uns ein lebendiges Beispiel dafür, wie sich ein muslimischer Richter verhalten sollte. 

Wir sollten erwähnen, da wir das islamische Rechtssystem besprechen, dass der Islam breite Richtlinien und Grundprinzipien bezüglich der Angelegenheiten des Lebens aufstellt und sich selten mit den besonderen Einzelheiten des Lebens befasst.  Dies ist so, damit diese Richtlinien für alle Zeiten und Orte relevant bleiben können.  Eine dieser Richtlinien ist, dass das die Gerechtigkeit unter den Menschen eine Verpflichtung ist, die ausgeübt werden muss.  Was die Art und Weise betrifft, wie dies erreicht wird, wird dies in den heiligen Texten nicht weiter ausgeführt.  Es wurde den Menschen einer jeden Generation überlassen, den geeignetesten Weg für ihre einzigartigen Lebensumstände herauszufinden.  Die einzige Bedingung ist, welche Methode auch immer ausgewählt wird, sie darf dem islamischen Gesetz nicht widersprechen. 

(teil 2 von 2): Seine gesetzmäßigen Grundlagen und islamische Gesetzgebung

Definition des Rechtssystems und seine gesetzmäßige Grundlage

Das Rechtssystem im Islam ist ein System, um zwischen Personen im Rechtsstreit zu entscheiden, mit dem Ziel, ihre Streitfragen im Einverständnis mit den Anordnungen des göttlichen Gesetzes zu schlichten, Anordnungen, die von Qur´an und Sunna stammen.

Alle Gesandten Gottes (möge Gott Friede mit ihnen allen sein) waren auch Richter.  Gott sagt: 

“Und David und Salomo richteten über den Acker, worin sich die Schafe eines Volkes zur Nachtzeit verliefen und weideten; und Wir waren Zeugen ihres Urteilspruches. Wir gaben Salomo volle Einsicht in die Sache, und jedem (von ihnen) gaben Wir Weisheit und Wissen.” (Quran 21:78-79)

Gott sagt ebenfalls:  

“O David, Wir haben dich zu einem Nachfolger auf Erden gemacht; richte darum zwischen den Menschen in Gerechtigkeit, und folge nicht (deinen) persönlichen Neigungen, damit sie dich nicht vom Wege Gottes abirren lassen." Wahrlich jenen, die von Gottes Weg abirren, wird eine strenge Strafe zuteil sein, weil sie den Tag der Abrechnung vergaßen.” (Quran 38:26)

Der Prophet Muhammad, der mit der letzten und abschließenden Botschaft gekommen war, wurde von Gott angewiesen, Urteile in Streitfragen zu fällen, genau wie er angewiesen wurde, das Wort Gottes zu verbreiten und die Menschen zum Islam zu rufen.  Dies wird im Qur´an an verschiedenen Stellen erwähnte.  Gott sagt beispielsweise: 

“Und du (O Muhammad) sollst zwischen ihnen nach dem richten, was von Gott herabgesandt wurde.” (Quran 5:49)

Gott sagt auch: 

“…richtest du aber, so richte zwischen ihnen in Gerechtigkeit. Wahrlich, Gott liebt die Gerechten” (Quran 5:42)

Und Er sagt:

“Doch nein, bei deinem Herrn; sie sind nicht eher Gläubige, bis sie dich zum Richter über alles machen, was zwischen ihnen strittig ist, und dann in ihren Herzen keine Bedenken gegen deine Entscheidung finden und sich voller Ergebung fügen.” (Quran 4:65)

Die Sunna liefert ebenfalls eine rechtliche Grundlage des islamischen Rechtssystems.  Es wird von Amr b. al-Aas berichtet, dass der Prophet sagte:

“Wenn ein Richter ein Urteil spricht, wobei er sein bestes Urteil gibt und darin richtig liegt, dann erhält er einen doppelten Lohn (von Gott).  Wenn er sein bestes Urteil abgibt, aber einen Fehler macht, dann erhält er einen einfachen Lohn.” (Ahmed)

Der Gesandte Gottes sagte:

“Ihr solltet euch nicht wünschen, wie andere Menschen zu sein, außer in zwei Fällen: ein Mann, dem Gott Reichtum gegeben hat und er spendet ihn für die Wahrheit und ein anderer, dem Gott Weisheit gewährt hat, und er gibt Erlasse auf seiner Grundlage und lehrt sie anderen.” (Sahieh Al-Bukhari, Sahieh Muslim)

Viele Gelehrte haben uns berichtet, dass es unter Muslimen einen gesetzlichen Konsens über das Rechtssystem des Islam gibt.  Ibn Qudamah sagt: 

“Die Muslime stimmen darin überein, dass für die Menschen ein Rechtssystem eingeführt werden muss.”

Die islamische Regelung bezüglich der Rechtssprechung 

Die Juristen stimmen darin überein, dass die Pflicht eines Richters eine Verpflichtung der Gesellschaft ist.  Wenn einige Mitglieder der Gesellschaft diese Verpflichtung erfüllen, genügt das für jeden.  Wenn jeder andererseits dies vernachlässigt, dann lastet die Sünde auf jedem in der Gesellschaft.  

Der Beweis dafür, dass dies Verpflichtungen sind, befindet sich im Qur´an:  

“O ihr, die ihr glaubt, seid auf der Hut bei der Wahrnehmung der Gerechtigkeit...” (Quran 4:135)

Es ist lediglich notwendig, dass eine kleine Zahl von Individuen die rechtlichen Verpflichtungen erfüllen, denn die rechtlichen Belange gehören zu der breiten Verpflichtung, das Rechte zu gebieten und das Falsche zu verbieten.  Es ist nicht für jeden Einzelnen verpflichtend, diese Pflicht zu erfüllen, solange einige Menschen dies tun.

Die Angelegenheiten der Menschen werden ohne ein Rechtssystem nicht richtig und aufrecht gelöst werden können.  Es ist also verpflichtend, dass eines existiert, genau wie es notwendig ist, ein Heer zu haben.  Imam Ahmad, einer der größten und bekanntesten Gelehrten des Islam sagte:  

“Menschen müssen eine richterliche Autorität haben, oder ihre Rechte werden verschwinden.”

Die Pflichten des Rechtswesens beinhalten, das Gute zu gebieten, den Unterdrückten zu helfen, die Rechte der Menschen zu sichern und unterdrückendes Benehmen zu untersagen.  Keine dieser Verpflichtungen können ohne die Bestimmung einer Justiz durchgeführt werden.  

Ein Rechtssystem ist eine Notwendigkeit für das Gedeihen und die Entwicklung der Nationen.  Es wird gebraucht, um die Freude der Menschen sicherzustellen, die Rechte der Unterdrückten zu schützen und den Unterdrücker zurückzuhalten.  Es ist der Weg, um Streit zu lösen, das Falsche zu verbieten und unsittliches Benehmen zu stoppen.  Auf diese Weise kann in allen Bereichen der Gesellschaft gerechte soziale Ordnung eingerichtet werden und jeder Einzelne kann seines Lebens, seines Besitzes, seiner Ehre und seiner Freiheit sicher sein.  In dieser Umgebung können sich Nationen entwickeln, können Zivilisationen gedeihen und die Menschen können frei verfolgen, was sie spirituell und materiell verbessert.